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Geographische Bildung tut Not!

Eberhard Schallhorn

Geographische Bildung tut Not – Über Erfordernisse und Defizite geographischen Unterrichts in den Schulen.

„Warum hat es die deutsche Geographie nicht vermocht, wesentliche Felder der in den letzten Jahren ständigan Bedeutung gewin nenden globalen Umweltforschung, speziell der Mensch-Umwelt-Beziehungen, zu besetzen und fortzuentwickeln?“

Diese Frage von Eckart Ehlers (Ehlers, Eckart: Das Anthropozän. Die Erde im Zeitalter des Menschen.
(Darmstadt 2008), S. 239) ist bis heute (Februar 2018) unbeantwortet. Einen Grund dafür sehe ich darin, dass sich die wissenschaftliche Geographie atomisiert hat – immer kleinere Forschungsbereiche nabeln sich von der Geographie ab und bilden eigenständige Forschungsbereiche, ohne auch nur auf das große Gemeinsame „Geographie“ hinzuweisen.

Das sei der Entwicklung des wissenschaftlichen Faches zugestanden. Dass aber selbst die Deutsche Gesellschaft für Geographie die Gemeinsamkeit der Geographie nicht aufrecht erhalten kann, ist kein Ruhmesblatt für die Geographie und führt eher zum Untergang des Faches als zu seiner Stärkung.

Der Deutsche Kongress für Geographie in Tübingen im Herbst 2017 fand keinerlei Resonanz in der Öffentlichkeit. Was war denn das Generalthema? Es gab keinen Pressespiegel, weil es keine Presseberichte gab. Die deutsche Geographie sank in die publizistische Vergessenheit – gleichwohl rühmten Vertreter der Geographie einen sehr erfolgreichen Kongress. Hier steht die Selbstbespiegelung Pate für eine Wahrnehmung über die eigene Bedeutung, die an der Wirklichkeit nicht nur vorbeischrammt, sondern ihr diametral entgegengesetzt ist.

Die Verantwortlichen reagieren entsetzt und verärgert auf derlei Äußerungen. Und derweil bricht die sogenannte „Basis“ der Geographie zusehends weg – die Geographie an der Schule, die ohnehin nur noch spärlich unterrichtet wird und nur dank eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz noch in der Oberstufe des Gymnasiums vorhanden ist. Wie es um ein Schulfach als „Basis“ für die Hochschule bestellt ist, zeigt ein Blick auf andere wissenschaftliche Disziplinen: Es gibt in der Schule kein Fach „Jura“, es gibt keine „Betriebswirtschaft“, es gibt kein Schulfach „Medizin“, und viele wissenschaftliche Fächer können mit dem an der Schule Gelernten herzlich wenig anfangen – Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geschichte…

Aber es gibt gewichtige Gründe für geographischen Unterricht in der Schule und die Notwendigkeit fundierter geographischer Bildung, und es gibt gewichtige Gründe dafür, den heutigen Geographieunterricht (wieder einmal) zu reflektieren: Ist er organisiert, wie es moderner Unterricht erfordert? Hat er in allen Schularten und Klassenstufen den inhaltlichen und methodischen Aufbau, der der Altersstufe der zu unterrichtenden Kinder angemessen ist? Entspricht er den gesellschaftlichen Erfordernissen von heute und denen für die Zukunft? Was kann Geographieunterricht, was der Unterricht in anderen Fächern nicht kann?

Hier ein paar Hinweise, die in diese Überlegungen eingebaut werden könnten – dabei bemühe ich mich, nicht dem neokonstruktivistischen Didaktikgeschwurbel zu verfallen:

Schule neu denken (von Hentig) – auch Geographie in der Schule neu denken
Auch wenn von Hentig inzwischen infolge persönlicher Umstände in die hintere Reihe der pädagogischen Mainsetter getreten ist MEHR

2018 – beinahe 50 Jahre nach Kiel (1969)!
1969 wurde die Länderkunde für die Geographie abgeschafft, und kaum einer hat sich dagegen gewehrt. Heute wird Regionalforschung MEHR

Interdisziplinarität – Markenzeichen und Kerngebiet der Geographie
Es gibt wohl nur wenige wissenschaftliche Fächer an den Universitäten und Unterrichtsfächer an den Schulen, die wie die Geographie Natur- und Sozialwissenschaften verbinden. MEHR

Inhalte anderer Fächer: Bildbeschreibung, Statistik lesen, Diagramme zeichnen…
Die Geographie hat in den Stundentafeln der Schulen nur eine geringe Repräsentanz. Trotzdem meinen wir Geographielehrer (zu) oft, die ganze Bandbreite schulischen Denkens und Strebens MEHR

Fremdenphobie
Die Geographie ist das eigentliche Fach, das unseren Schülerinnen und Schülern das Leben der Menschen in anderen Teilen der Welt unter anderen kulturellen Gegebenheiten vermitteln könnte. MEHR

Geowissenschaftliches Gymnasium
Ein inzwischen gealterter, allerdings nie aufgegriffener Vorschlag. Während um uns herum die spezifischen Ausrichtungen von Gymnasien aus dem Boden schießen, halten sich geographische Interessenverbände vornehm zurück, wenn es darum geht, das „Gymnasium mit geowissenschaftlichem / geographischem Schwerpunkt“ zu fordern. MEHR

Geowissenschaftlicher/Geographie-Fachraum
Geographieunterricht lebt von der Anschauung durch Texte, Bilder, Sammlungsgegenstände aus aller Welt (Gesteine, Wüstensande…), Karten, Atlanten, Exkursionsausrüstungen… MEHR

Lehrpläne/Bildungspläne/Curricula
Die Lehrpläne (oder Bildungspläne oder Curricula) der einzelnen Schulfächer haben inzwischen für die Lektüre durch Lehrkräfte geradezu abschreckende Umfänge erreicht. MEHR

Vom Nahen zum Fernen?
Es gab einmal einen Kultusminister in einem deutschen Bundesland, der gegen die Geographielehrerschaft seines Landes das Prinzip vom Nahen zum Fernen durchsetzte – und dann behauptete. MEHR

Didaktisches
Vom Nahen zum Fernen ist ein Vorschlag zum methodischen Vorgehen im Geographieunterricht. Es gibt deren unzählige, und kaum ein Didaktiker versäumt es  MEHR

Weniger kognitive Inhalte in der Unterstufe, sondern Interesse wecken und staunen lassen über die Welt
Es gibt ein schönes Gedicht des Romatikers Novalis: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen…“ Warum behandeln wir mit unseren jüngeren Schülern  Bevölkerungszahlen MEHR

PISA, OECD, empirische Bildungsforschung, Kompetenzen…
Die seit PISA 2000 von der OECD in die deutsche Bildungslandschaft erfolgreich implementierte Vermessung der Schülerleistungen ist nicht nur ein Problem des Unterrichtsfaches Geographie MEHR

Exkursionen, Feldarbeit, Arbeitsgemeinschaften, Geographie im Landschulheim…
So hieß das früher, wenn man/frau mit der Klasse Geographieunterricht „draußen“, nicht „vor“ Ort, sondern „am“ ausgewählten Ort veranstaltete. MEHR

Nachhaltigkeit
Der Verband Deutscher Schulgeographen kennzeichnet sich als Verband für „Nachhaltigkeitserziehung“. Dieser Formulierung folgen allerdings nicht alle Landesverbände. Der Begriff „nachhaltig“ MEHR

Stadt, Land, Fluss
Ein hübscher Zeitvertreib für zwischendurch: Mindestens zwei Spieler; der eine sagt „A“ und spult murmelnd das Alphabet ab, der andere sagt irgendwann „Stop!“, und der Buchstabe MEHR

(Landschafts-) Ökologie
Es erscheint durchaus bedauerlich, dass der landschaftsökologische Arbeits- und Betrachtungsansatz (Carl Troll 1939) nicht in der Geographie, schon gar nicht in der Schulgeographie Fuß gefasst hat.  MEHR

EU, Brexit, Unterschiedlichkeit der Regionen
Ist den für Bildung Verantwortlichen eigentlich bewusst, dass die fatal geringe Bedeutung der Behandlung der Europäischen Union im Unterricht unserer Schulen – und wo denn bitte sonst als grundlegend im Geographieunterricht MEHR

Tourismus /Overtourism
Zu Zeiten, in denen sogar die deutsche Schulferienregelung Rücksicht auf die touristischen Gewohnheiten nimmt, erscheint es besonders schwierig, aus geographischer Sicht über Sinn und Unsinn MEHR

Externalisierung
Auch wieder so ein Stichwort, das den Bildungs- und Finanzministern ein Argument liefert, dass die Geographie in der Schule gekürzt gehört: Denn wer will schon MEHR

Globalisierung
Ein besonderes Problem unserer Zeit ist die „Verdichtung von Raum und Zeit“, wobei in der Geographie insbesondere die Verdichtung des Raumes bedeutsam ist MEHR

Internationale Wirtschaftsabkommen
Ein Thema, das in der Schule angesichts seiner überragenden Bedeutung für die globalisierte Wirtschaft zu kurz kommt (weil der Geographie dazu die Stunden fehlen) MEHR

Wettbewerbe
Ein gern benutztes Medium dafür, öffentlichkeitswirksame Aufmerksamkeit zu erlangen und zugleich den Vereinszweck – hier: Geographische Bildung stärken – zu erreichen, ist die Kreation neuer oder die Mitwirkung an bestehenden Wettbewerben.  MEHR

Geographische Bildung
Es bleibt die Frage, was denn das nun ist: „Geographische Bildung.“  Die Antwort ist ebenso schwierig zu formulieren wie die nach  dem, was „Bildung“ insgesamt ist.  Aber man könnte sich vielleicht so einigen MEHR

… und nun?
Die hier angeführten Inhalte sind bedeutsam für die geographische Bildung unserer Schüler, der zukünftigen Bürger/innen, die über den Rand der eigenen Region hinausblicken und auf dem festen Boden von „Heimatbewusstsein und Weltkenntnis“ (Slogan des Deutschen Schulgeographentages 1992) Einsicht in das Geschehen auf der Erde haben sollen. Sie üben damit das Denken in globalen Zusammenhängen, das seit dem Bericht des Club of Rome von 1972 über die „Grenzen des Wachstums“ angesichts der globalen Menschheitsprobleme für Gesellschaften und Einzelne unabdingbar ist. Es ist einsichtig, dass die „Kiste Schulgeographie“ zu klein ist für die vielen Pakete, die in sie hineingelegt werden sollen. Und dabei ist noch Weiteres gar nicht erwähnt, etwa Geologie und Gesteinskunde, Vulnerabilität der Erde, Meere, Wetter und Klima, Böden, Landschaftszonen, Siedlungen, Verkehr, Landwirtschaft, Kulturlandschaftsentwicklung und Landesplanung. Alles – oder, weil es ohnehin nicht zu schaffen ist: Nichts?

Fakt eins:
Es gibt geographische Themen und Kompetenzen, die für das Verhalten und das Weltverständnis unserer Bürger und damit die geographische Bildung unverzichtbar sind und in der Schule ihren Platz im Fach Geographie haben müssen. Letztlich könnte die Auswahl bis etwa zwei Jahre vor dem Schulabschluss dem Fachlehrer, der Schule, den Schülern und den Eltern gemeinsam in demokratischer Abstimmung überlassen werden – auch wenn ich schon die besorgten und verstörten Einwände der Eltern höre, wie denn ihre Kinder beim Schulwechsel, vielleicht sogar in ein anderes Bundesland, oder gar beim – horribile dictu! – Wiederholen mit dem Fach zurecht kommen sollen. Ich höre auch die abwehrenden Bastas! der Kultusbürokratie: „Geht nicht!“ Geht nicht, gibt’s nicht. Die Inhalte müssen aber  vom Fachlehrer Geographie mit angemessenen, fachimmanenten Methoden unterrichtet werden. Dabei muss der Fachlehrer das Alter seiner Schüler/innen und die Anforderungen des Schulabschlusses im Blick haben. Bei aller Vielfalt der möglichen Themen verspricht weniger Inhaltsvielfalt  die Möglichkeit gründlicherer Unterrichtung und Einsicht sowie besseres Verständnis der geographischen Methode.

Fakt zwei:
In kaum einem Bundesland ist das Fach Geographie stundenmäßig so ausgestattet, dass heute das unverzichtbar erforderliche Mindest-Niveau der geographischen Bildung unserer Bürger erreicht werden kann. Es bleibt völlig unklar, welche – pädagogischen, bildungspolitischen, schulischen, fachlichen, finanziellen – belastbaren Argumente die Kultusbehörden als Grundlage ihrer gewöhnlich wortreichen Ablehnungen entsprechender Eingaben der Schulgeographie heranziehen.

Fakt drei:
Die Forderung nach kontinuierlichem Geographieunterricht in allen Klassenstufen und Schularten mag altbacken, erneut lästig wiederholt und ohne Berücksichtigung vermeintlicher  bildungspolitischer Sachzwänge erhoben sein. Sie wird nicht eigennützig wegen des Faches Geographie erhoben, sondern aus großer Sorge um die geographische Bildung unserer Bürger/innen, die schon heute oft zu wenig systemisch und komplex denken und  argumentieren sowie bei raumbezogenen Fragen zu wenig Raumvorstellung und Sinn für Raumbeziehungen und Regionen haben.  Sie ist deswegen weder falsch noch überflüssig. Sie bleibt wahr und notwendig. Ihre Erfüllung ist überfällig.

(Aber) Fakt vier: Es nützt niemandem, wenn von Seiten der Geographie immer wieder und unverdrossen behauptet wird, Geographie sei DAS Umweltfach oder DAS Schulfach des 21. Jahrhunderts oder DAS unentbehrliche Schulfach, das nicht nur die geographische, sondern die Bildung insgesamt erretten werde. Die Schulgeographie ist ein Schulfach unter vielen, und jede Fachgruppe wird behaupten, dass sie unentbehrlich sei für die Bildung des künftigen Bürgers. Und der erkennt viel zu oft, dass er das, was er tatsächlich im Leben benötigt, jedenfalls in der Schule nicht gelernt hat. Um unsinnigsten halte ich die Hinweise sogar gestandener Lehrer/innen, dass sie dieses oder jenes in der 8. oder 9. Klasse nicht zu behandeln brauchen, weil das doch schon in der 5. oder 6. Klasse behandelt wurde. Schon mal etwas von Entwicklungspsychologie gehört? Sorry, das ist nun wahrlich Nestbeschmutzung…

Dass eine Diskussion geführt werden muss über das, was zukünftige Bürgerinnen und Bürger als zukunftsfähiges Rüstzeug in der Schule erhalten müssen, bleibt unbestritten, wird aber nicht umgesetzt. Diese Diskussion wird nicht geführt. Dass aber auch erkannt werden muss, dass Schulfächer ihre je eigenen Inhalte, Denkweisen und – ja! – Kompetenzen (nicht erst seit PISA!) vermitteln sollen und müssen, bleibt ebenfalls unbestritten. Es ist aber unglaubwürdig, wenn auf der einen Seite festgestellt wird, was im Schulfach Geographie alles vermittelt werden sollte oder müsste, auf der anderen Seite aber die Stundenverteilung in der Schulwirklichkeit bedauernd erwähnt oder sogar vergessen wird. Zwei Unterrichtsstunden Schulgeographie in dem einen oder anderen Schuljahr oder die Möglichkeit der Wahl des Faches im Abitur allein können die Welt auch nicht retten, ob es nun eine „Roadnap“ gibt oder nicht!

Die Schulgeographie kann sich nur behaupten, wenn Schulgeographen/innen endlich ihre Möglichkeiten in der Schule nüchtern erkennen und sich auf sie auf der Grundlage ihres umfassenden wissenschaftlichen Knowhows bewusst beschränken. Das bedeutet eine verantwortungsvolle, aber mutige Durchforstung der eigenen Inhalte in der Schule. Das bedeutet aber auch inhaltlichen Verzicht und die Notwendigkeit, sich an die   psychologischen und pädagogischen Gegebenheiten unserer Schüler/innen zu erinnern. Statistik oder  systemische Darstellungen oder Textinterpretationen oder… haben in der Unterstufe nichts verloren, wo die Schüler/innen mit Schilderungen „aus der weiten Welt“ für das Schulfach gewonnen werden können.

Wenn Geographen meinen, ihr Schulfach habe existentielle Inhalte, die unverzichtbar sind, dann müssen sie benannt werden – aber andere müssen mutig gestrichen oder „alternativ“ gesetzt werden, denn Geographie ist sicherlich ein wichtiges, aber nicht das einzige zukunftsweisende Schulfach.